Gelesenes

Gendernismus

Gerade in der FAZ einen wunderbaren Kommentar eines Nutzers mit dem Namen A. Epple zum Thema Gendern gefunden:

„Und was ist mit der Physik? Die einseitige Darstellung.*:in von Positron.*:innen als positiv und Elektron_*:innen als negativ ist purer Teilchenrassismus. Ich werde mich zum Protest_*:in unmittelbar an ein paar Neutron_*:innen festkleben.“

Der Nachtstimmer (Maarten ´t Hart)

Ein etwas eigensinniger Orgelstimmer, eine brasilianische Schönheit, ein anscheinend autistisches Mädchen mit einem besonderen Faible für´s Orgelstimmung und einen ganzen Haufen skurriler, zum Teil missmutiger bis hin zu feindseliger Gestalten, das ist der Stoff des Buches um den sich „Der Nachtstimmer“ des niederländischen Schriftstellers Maarten ´t Hart rankt. Der strenge evangelische Glauben, der das Leben des Autors seit seiner Kindheit prägt, spiegelt sich auch in der Geschichte um den Orgelstimmer Gabriel Pottjewijd wider, wenn er als Ersatzstimmer in ein Dorf im Süd-Westen der Niederlande gerufen wird. Eigentlich will er nur ein paar Tage bleiben und schnell, aber auch gründlich, seine Arbeit erledigen, doch er wird gebeten noch ein zweites, größeres Instrument zu stimmen und der Aufenthalt verlängert sich.

Foto: Norbert Gerhard Bach

Über dem ganzen Roman liegt eine Verstimmtheit – nicht nur der Orgeln wegen. Und, es mangelt nicht an Spannung, wenn Pottjewijd den anderen Bewohnern begegnet, bis hin zu eifersuchtsgeführten Dramahandlungen gegen ihn; ohne. dass der so wenig strategisch denkende, sondern sich eher in schöngeistigen inneren Auseinandersetzungen verlierende Orgelstimmer das wahrhaben will. 

Ein recht spitzbübisch geschriebenes Buch mit viel Liebe zum Detail aus dem Berufsalltag eines Orgelstimmers und mit nicht zu überlesenden Liebesbekundungen gegenüber Deutschland, mit denen das Buch gleich zu Beginn ein Zeichen setzt, dass der in Groningen lebende Pottjewijd seine Landsleute nicht wirklich mag: „Seltsam, dass die Menschen in Ostfriesland, Luftlinie nicht weit von Groningen entfernt, so viel netter und zuvorkommender sind als die Groninger. Denn auch wenn man reimt: 
‚Schön wie die gold’nen Ähren sprießen, 
schuf Gott die Drenter, Groninger und Friesen, 
und aus der Spreu und andren Resten, 
schuf er die Drecksäcke im Westen’, 
kann man nicht sagen, dass Drenter, Groninger und Friesen wirklich nette Menschen wären.“ 

Pottjewijd hadert, mit sich, den Menschen um ihn herum, der brasilianischen Mutter der Tastenhalterin und mit der Ortschaft in der er arbeiten muss, insbesondere mit der nahe an der Kirche liegende Werft die soviel Krach veranstaltet, dass er nur in den Randstunden des Tages oder in der Nacht einen Teil seiner Stimmarbeit erledigen kann. 

Das Buch hat auf seinen 308 Seiten immer wieder überraschende und launige Wendungen und es wird einem selbst bei den vielen Bibel- und Gesangsbuchzitaten und bei den ausschmückenden Reminiszenzen an das umfangreiche Musikwissen des Hauptprotagonisten, nicht langweilig.

Macht viel Spaß zu lesen.

Maarten ´t Hart
Der Nachtstimmer
Roman
Verlag: Piper
Seitenzahl: 308
Erscheinungstermin: 31. Mai 2021
Deutsch
ISBN-13: 9783492070430
ISBN-10: 3492070434
Artikelnr.: 60405984
Preis: 24 Euro

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Wellen (Eduard von Keyserling)

Eine adlige Gesellschaft der Gräfin Palikow findet sich in einem Fischerdorf an der Ostsee zur Sommerfrische ein. Nach und nach treffen die manchmal recht komplizierten Charaktere ein.

Im gleichen Dorf wohnt der Maler Hans Grill, der im Rahmen eines Auftrags die Gräfin Doralice kennen und lieben lernte und sie ihrem ebenfalls adeligen Ehemann ausgespannt hat. Nach ihrer Scheidung hat sie gesellschaftlich nichts mehr zu verlieren. Doralice wird als sehr hübsche und mit ihren Reizen spielende Frau gezeichnet, die promt den Herren der Adelsfamilie Palikow die Augen verdreht. Es kommt, wie es kommen muss, Verwicklungen, Abreise der Familie Palikow. Zuvor versucht sich die, sagt man bei Frauen auch gehörnte, Verlobte des um Doralice besonders werbenden Leutnant Hilmar, das Leben zu nehmen, was jedoch scheitert; sie wird gerettet. Anders ergeht es dem Maler Hans Grill, der von einer Ausfahrt mit einem der Fischer nicht mehr zurück kehrt.

Die Fadenstränge der einzelnen Protagonisten verknüpft sehr geschickt der bucklige Geheimrat Knospelius, der sich am Ende der verwitweten Doralice für eine Reise in den Süden empfiehlt.

Wer Gesellschaftsromane des ausgehenden 19. Jahrhunderts, hierhin würde ich den Roman zeitlich verorten, mag, wird „Wellen“ von Eduard von Keyserling verschlingen.

Eduard von Keyserling
Wellen

2017 Anaconda Verlag GmbH, Köln
Hardcover, Pappband, 192 Seiten
Preis: 3,95 €
ISBN: 978-3-7306-0474-8
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Laufen (Isabel Bogdan)

Laufen, das ist so eine Sache. Es gibt wenige Momente, in denen man so wirklich ganz alleine ist. Laufen, das ist so ein Moment. Selbst wenn man die Kopfhörer in den Ohren hat und man ein Hörbuch hört oder Musik zum Laufen, selbst wenn da noch jemand neben einem läuft, beim Laufen ist man fixiert auf seinen Körper, auf sich selbst. Und auf seinen Kopf und was darin vorgeht.

Haben Sie schon einmal einem anderen Menschen beim Laufen ins Gehirn geschaut? Was da so drin abgeht? Isabel Bogdan hilft Ihnen dabei; wenn Sie wollen. In ihrem Buch „Laufen“ nimmt sie uns Leserinnen und Leser mit auf die Laufstrecken einer fiktiven Läuferin und lässt uns in die Gedankenwelt der Läuferin, einer Bratschistin, die ihren Mann verloren hat, schauen. Die Geschichten um die Protagonistin laufen im Hintergrund ab, nur ihn ihrem Kopf und wir Leser erleben sie aus dem Gedankenstrom der Läuferin heraus. Was für eine tolles Stilmittel.

Bogdan nimmt uns auf viele Läufe der Protagonistin über mehrere Monate hin mit. Die Läuferin entwickelt sich Stück für Stück vom Weglaufen zu neuen Perspektiven für sich. Anfänglich ist die Sprache hektisch, unsortiert in langen Gedankenreihen, verschachtelt; so wie die Gedanken nun mal beim Laufen sind, wenn man nicht richtig weiß, wo die Gedanken, aber auch man selbst, hinlaufen will. Dann, ab etwa der Hälfte des Buches, wird die Sprache ruhiger, die Sätze kürzer, machmal vielleicht schon zu sehr vom Charakter, jemandes, der eher im Sessel sitzt und wohl überlegt, denn von einer Läuferin. Aber das tut keinen Abbruch, denn immer wieder flammen auch die typischen Laufgedankenreihen auf.

Wunderschön schräg sind die Gedanken zuweilen, wenn sie anderen Läufern begegnet und sie charakterisiert. Alles lenkt ab vom Schmerz über einen geliebten verlorenen Menschen, der im Mittelpunkt steht. Aber beides nimmt auch ab, der Schmerz und der im Mittelpunkt stehende Mensch; zumindest die Form der Erinnerung an ihn.

Begleitet, nicht bei den Läufen, jedoch mental zur Bewältigung ihrer Trauer, wird die Läuferin von ihrer langjährigen Freundin Rike und der Psychotherapeutin Frau Mohl. Beide finden stets den richtigen Ton, die richtigen Worte und manchmal auch den richtigen Schubser.

Ich bewundere Isabel Bogdan dafür, dass sie es geschafft hat, den ganzen Roman komplett aus dem Gehirn der Protagonistin heraus zu schreiben; ganz ohne wirkliche Brüche.

Ein äußerst lesenswertes Buch.

Isabel Bogdan
Laufen
Kiepenheuer & Witsch, 2021

208 Seiten, gebunden
Preis: 20,00 €
ISBN-13: 978-3-462-00158-7
Alle weiteren Infos beim Verlag, incl. Lesetermine. Hier klicken.
Und hier geht´s zur „Laufen“-Seite von Isabel Bogdan.

Psychogramme um einen toten Pfau

Isabel Bogdan
Der Pfau

Weil ein Pfau blau sieht, ist es mit der Ruhe im idyllischen Tal am Rande der schottischen Highlands schnell vorbei. Der psychopathische Pfau ist der Einstieg und der Angelpunkt, um den sich alles im Debütroman von Isabel Bogdan dreht. In der Geschichte ist er länger tot als lebendig; dennoch wirbelt er eine ganze Gesellschaft durcheinander. Eine Gesellschaft, die ähnlich wie der Pfau, mit ihren psychischen Problemen und Problemchen zu kämpfen hat.

Ein größeres Anwesen in besagtem Tal wird von deren Lord und Lady vermietet; im Zentrum der Geschichte an eine Gruppe von Investmentbankern, die von ihrer Chefin, selbige von ihrem Chef zu einem Teambuilding-Wochenende verdonnert sind. Jeder Einzelne mit seinem Päckchen aus Vergangenheit und beruflicher Anforderung und Überforderung, mit den Zutaten einer gewitzten und tatkräftigen Köchin, die mehr tut als nur kochen und einer Psychologin, der eigentlich nichts so richtig gelingt, aber irgendwie dann wieder doch. Mehr sind es die Zufälle, die die Gruppe näher zusammenbringt und entwickelt, denn die Kunst der Psychologin, oder vielleicht doch, weil sie es schafft, aus dem Hintergrund und fast nebenbei gut zu moderieren?

Bogdan ist es gelungen, nachvollziehbare Charaktere zu entwickeln und sich Gruppendynamiken entwickeln zu lassen; mit Kerngruppe und Nebengruppen, mal näher dran, mal weiter weg zu spielen und ein eigenartiges Geflecht zu entwickeln, das insbesondere durch das, was die Protagonisten nicht preisgeben, verwoben ist.

Irgendwann ist der blauverrückte Pfau tot. Die sich daran entspinnenden (falschen) Vermutungen geben dem kurzzeitigen Zusammenleben aller Beteiligten die Würze der Geschichte; sei es der Lord, der den Pfau tatsächlich auf dem Gewissen hat oder der Hund der Chefin der Truppe, von dem vermutet wird, dass er den Pfau gerissen habe, bis hin zur Köchin, die … aber das würde jetzt zu weit führen.

Das Buch macht dem Begriff des Unterhaltungsromans alle Ehre. Ich habe es in einem Rutsch durchgelesen nur unterbrochen von einem, wenn auch kurzen nächtlichen Schlaf – das ließ sich dann nicht vermeiden; aber ich meine, selbst im Traum sei ein Pfau ein paar mal aufgetaucht.

Isabel Bogdan „Der Pfau“
Gebundenes Buch: Kiepenheuer & Witsch 2016, ISBN-13 978-3-462-04800-1, 256 Seiten, 18,99 €
Taschenbuch: Insel Verlag 2018, ISBN-13: 978-3-458-36297-5, 247 Seiten, 10,00 €
E-Book: Kiepenheuer & Witsch 2016, ISBN-13: 978-3-462-31536-3, EPUB, 9,99 €

Quelle: Buchkatalog

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